Neutralität via Netto-Allphasen-Prinzip mit Vorsteuerabzug
Das gemeinsame MwSt-System beruht auf dem folgenden Grundsatz: Jedes steuerpflichtige Unternehmen in der Leistungskette errechnet auf Grundlage des Entgelts, das es von seinem jeweiligen Abnehmer erhält, die Umsatzsteuer nach dem Steuersatz, der für den gelieferten Gegenstand oder die erbrachte Dienstleistung anwendbar ist. Gleichzeitig ermittelt es die Vorumsätze, die es zur Ausführung seiner Lieferungen und Erbringung seiner Dienstleistungen verwendet hat, und die Umsatzsteuer, die ihm dafür in Rechnung gestellt worden ist. Diese Umsatzsteuer zieht es als Vorsteuer von seiner Steuerschuld ab. Der Unterschiedsbetrag wird als Zahllast an das Finanzamt abgeführt. Das gemeinsame MwSt-System wird bis hin zur Einzelhandelsstufe angewandt. Die subjektive Vorsteuerabzugsberechtigung ist auf allen Stufen entlang der Leistungskette individuell zu beurteilen. Die von der MwSt wirtschaftlich zu belastende Person (Steuerträger) ist der Endverbraucher. Die Belastung des Letztverbrauchs wird dadurch erreicht, dass der Vorsteuerabzug auf Ebene des Enderbrauchers entfällt. Der Vorsteuerabzug entlang der Unternehmenskette gewährleistet, dass die MwSt-Belastung des Endverbrauchers unabhängig davon ist, wie viele Produktions- und Vertriebsstufen ein Produkt durchlaufen hat. Vereinfacht lässt sich die Wirkungsweise der MwSt wie folgt darstellen (unterstellter Steuersatz von 27%):
Als Selbstdeklarationssteuer ist die MwSt in nicht unerheblichem Maße störanfällig. So besteht einerseits die Gefahr, dass die USt auf Ausgangsumsätze eines Unternehmens nicht deklariert oder entrichtet wird. Andererseits besteht die weit größere Gefahr darin, dass Vorsteuer „erschlichen“ und ausgezahlt wird, ohne dass der Staat die korrespondierende Umsatzsteuer überhaupt einnimmt. Das macht die MwSt in ihrer heutigen Erhebungsweise in hohem Maße betrugsanfällig
Nach der Rechtsprechung des EuGH[1] weist die MwSt vier Strukturmerkmale auf:
- Allgemeine Geltung der Steuer für alle sich auf Gegenstände und Dienstleistungen beziehenden Geschäfte;
- Festsetzung ihrer Höhe proportional zum Preis, den der Steuerpflichtige als Gegenleistung für die Gegenstände oder Dienstleistung erhält;
- Erhebung der Steuer auf jeder Produktions- und Vertriebsstufe einschließlich der Einzelhandelsstufe, ungeachtet der Zahl der vorher bewirkten Umsätze;
- Abzug der auf den vorhergehenden Stufen bereits entrichteten Steuerbeträge von der vom Steuerpflichtigen geschuldeten Steuer, so dass sich die Steuer auf einer bestimmten Stufe nur auf den auf dieser Stufe vorhandenen Mehrwert bezieht und die Belastung letztlich vom Verbraucher getragen wird.
Diese Grundprinzipien werden häufig als Neutralität der Mehrwertsteuer zusammengefasst.
Zum einen impliziert das Neutralitätsprinzip das Verbot von Wettbewerbsverzerrungen im Binnenmarkt. Gleichartige und miteinander in Wettbewerb stehende Leistungen dürfen bei der Erhebung der MwSt nicht unterschiedlich behandelt werden. Die wirtschaftlichen Tätigkeiten sind unabhängig von ihrem Zweck und ihrem Ergebnis in völlig neutraler Weise steuerlich zu belasten. Das bedeutet, dass die Zuweisung des nationalen Besteuerungsrechts und die Ermittlung der steuerlichen Bemessungsgrundlage in allen Mitgliedstaaten auf dieselbe Weise erfolgt. Zum anderen besagt das Neutralitätsprinzip, dass die MwSt innerhalb der Unternehmerkette kostenneutral wirken muss, da sie vom Endverbraucher zu tragen ist. Die nationalen gesetzlichen Vorschriften müssen innerhalb der Unternehmerkette die vollständige Entlastung von der Vorsteuer sicherstellen. Die kostenneutrale Behandlung der MwSt wird durch die offene Steuerüberwälzung und das Recht auf Vorsteuerabzug ermöglicht. Auch der umsatzlose Unternehmer ist danach im Grundsatz zum Vorsteuerabzug berechtigt. Bei „unechten“ Steuerbefreiungen[2] kann es allerdings auch innerhalb der Unternehmerkette zur Versagung des Vorsteuerabzugs und damit zu einer Kumulation von MwSt kommen. Die Belastung unecht befreiter Leistungen mit „verdeckter“ Umsatzsteuer („taxe occulte“) ist systemgewollt und mit dem Neutralitätsprinzip vereinbar.
Bei der praktischen Anwendung des gemeinsamen MwSt-Systems sind als weitere Grundprinzipien die Grundsätze der Rechtssicherheit und Verhältnismäßigkeit zu beachten[3]und die Grundfreiheiten des EG-Vertrags zu gewährleisten. Dazu zählt u.a. auch der freie Warenverkehr[4].
Das Umsatzsteuerrecht hat anders als das Zollrecht[5] oder das europäische Ausfuhrerstattungsrecht[6] keinen Straf- bzw. Sanktionscharakter. Dass sich in der zur MwSt ergangenen Rechtsprechung des EuGH gleichwohl sanktionsrechtliche Erwägungen finden[7], hat letztlich mit der aus allgemeinen Rechtsgrundsätzen abgeleiteten Missbrauchsklausel des Gemeinschaftsrechts zu tun.